Diese Rede hat Anne Allex auf der behindert und verrückt feiern Pride Parade 2013 gehalten:

Liebe MAD & DISABILITY PRIDE PARADE-Teilnehmer_innen,

im Jahr 2012 gab es die höchste Erwerbslosigkeit von Menschen mit Behinderungen, die es je in der Bundesrepublik gab. Private Unternehmen und öffentliche Einrichtungen zahlen lieber die Ausgleichsabgabe statt Menschen mit Behinderungen einzustellen. Viele müssen nathlos nach dem Diplom oder dem Abschluss der Dissertation Arbeitslosengeld II beantragen.

Doch dabei soll es aber nach Auffassung aller Parteien nicht bleiben. Die meinen, dass Menschen mit Behinderungen „Minderleister_innen“ sind, aber ihr Restarbeitsvermögen doch durchaus irgendwie abgeschöpft werden soll. Die CDU/ CSU-FDP wollen, Menschen mit Behinderungen mit Hartz-IV in Werkstätten für Behinderte zum Arbeiten schicken. Die Sozialdemokraten wollen einen sozial-integrativen Sonderarbeitsmarkt auf 1-Euro-Tarifniveau nur für Menschen mit Behinderungen einrichten. Die Grünen planen dauerhafte Vollbezuschussung von Beschäftigung für einen Sonderarbeitsplätze mit unzureichender Entlohnung für viele Jahre, derzeit mit dem § 16e SGB II über Aktivierungsmaßnahmen, Profilings und Stellen zur Förderung der Arbeitsaufnahme (FAV). In allen drei Vorschlägen ist die Existenz ungesichert und es steht die Frage, wie sich Menschen mit Behinderungen bei unablässig steigenden Mietpreisen in ihren Wohnungen halten sollen.

Die Bundesagentur für Arbeit hat mit speziellen Sondierungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen begonnen, um alle Daten über die Einzelpersonen ermitteln und sie um jeden Preis irgendwo in Arbeit zu stecken. Auch wenn Du als hochqualifizierter Sozialwissenschaftler schon 10 Jahre im Bundestag als wissenschaftlicher Fraktionsreferent gearbeitet hast, kennt der Maßnahmeträger keine Scheu, für Dich eine Nachtwächterstelle bei einem privaten Unternehmen zu suchen und Dich vorher dafür unter Druck zu setzen und weich zu klopfen.

Die LINKE will die Zugangsbeschränkungen zu den Werkstätten für Behinderte abschaffen und gleichzeitig den arbeitnehmerähnlichen Status des SGB IX. Aber wohl gemeint, ist nicht gut. Beides würde u. a. bewirken, dass der Schutz bei Erwerbsminderung bzw. Erwerbsunfähigkeit - nämlich die Möglichkeit zu Frühverrentungen, befristeten Erwerbsminderungsrenten bzw. Erwerbsunfähigkeitsrenten wegfällt: Dieser Schutz ist in der Definition der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II formuliert, da nur der_diejenige als erwerbsfähig gilt, wenn er_sie mehr als 3 Stunden täglich erwerbsarbeiten kann. Fällt diese Grenze, muss dieser Personenkreis trotz Krankheiten und Behinderungen einerseits und obwohl sie andererseits spezielle Qualifikationen und Berufserfahrungen haben in Werkstätten arbeiten.

Auch der arbeitnehmerähnlicher Status im SGB IX ist deshalb auch nicht nur als Diskriminierung, sondern auch als Schutz zu verstehen. Selbst bei Wegfall dieses Status bliebe der Bezug von Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch XII dann zwingend, wenn Menschen nur unter 3 Stunden arbeiten könnten. Aber die Einkünfte dieser Personen würden noch härter als in Hartz IV angerechnet und es nur ein Gesamtschonvermögen von 1600 Euro zulässig. Und – ist jemand dort erst einmal drin, dann kommt er nicht mehr heraus. Das können wir nicht wollen oder?

Alle Parteienforderungen helfen dabei, den Berufsschutz, den Schutz der erworbenen Qualifikation und Berufserfahrung zu ignorieren und Menschen mit Behinderungen auf ihre Einschränkung zu reduzieren.

Gleichzeitig verschlechtern sich auf Grund der Einsparung öffentlicher Mittel zur Schuldentilgung von Staat und Banken die Nachteilsausgleichsmöglichkeiten über die Integrationsämter. Das alles vermindert die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen.

Schauen wir uns in Europa um, sehen wir, dass in Großbritannien Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderung auf die Sozialeinkommen der Familie angerechnet, viele eine bettroom tax zahlen müssen und ab 2013 ein Drittel der Menschen mit Behinderungen wegen Anrechnungsveränderungen überhaupt keine Leistungen mehr erhält. In den Niederlanden und in der Schweiz ist das Invalidenrecht mit dem Erwerbslosenleistungssystem zusammengelegt worden. Erwerbslose gelten nun als sozial Behinderte und Menschen mit Behinderungen wurden die Leistungen gekürzt. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich in Österreich. Begründet wird dies mit den Zwängen der Austeritätspolitik. Der Sachzwang hilft Staat und Konzernen sämtliche soziale Leistungen abzubauen. Und dass Menschen mit Behinderungen oftmals am Schutzlosesten sind, zeigt sich an den Zwangsräumung von Rosemarie Fliess in Berlin und der 62-jährigen Frau K. aus Essen sowie an der Räumungsabsicht bei Frau Nurye Cengiz. Solche Entwicklungen dürfen wir nicht klaglos hinnehmen, sondern müssen uns in der Öffentlichkeit dagegen wenden.

Um die Situation sozialpolitisch näher zu erörtern, lade ich Euch zum Forum Sozialpolitik 2013 vom 20.-22.09.2013 der AG SPAK in Berlin recht herzlich ein.