Aufruf 2014
Freaks und Krüppel,
Verrückte und Lahme,
Eigensinnige und Blinde,
Taube und Normalgestörte -
kommt wieder raus auf die Straße, denn sie gehört uns!
Wir waren viele! Wir werden mehr!
Feiert mit uns auf der behindert und verrückt feiern - Pride Parade 2014 in Berlin!
Barrieren ins Museum, Schubladen zu Sägemehl, Diagnosen zu Seifenblasen!
Küsst den Wahnsinn wach, liebt Krummbeine und Spasmen, begehrt Krücken und Katheter. Wir verstören und verführen und sind lauter als die Norm! Rollt, humpelt, tastet euch vor - zum Hermannplatz am 12. Juli, um 15 Uhr.
Wir wurden Randgruppen zugeteilt und als Mängelwesen gekennzeichnet. Wir wurden eingesperrt und Sonderbehandlungen unterzogen. Doch wir sind sichtbar – hier, mitten im Zentrum. Seit Jahrzehnten kämpfen wir für Barrierefreiheit, Teilhabe und Assistenz, fordern Gleichbehandlung und Respekt. Wenn heute Politiker_innen und Funktionär_innen das Wort Inklusion benutzen, hört es sich an, als hätten sie diese erfunden. Gnädig wollen sie uns Inklusion gewähren. Da Inklusion enorm viel Geld kosten würde, müssten wir noch etwas Geduld haben, bis die umfassend inklusive Gesellschaft Wirklichkeit wird ... Wir sagen Nein! Wir warten nicht ab! Unser Leben findet hier und jetzt statt.
Wir warten nicht ab, dass unsere Körper endlich als begehrenswert bewertet werden. Wir zeigen, wie schön wir sind. Wir warten nicht ab, bis unser Verhalten nicht mehr als abseitig und verstörend angesehen wird. Wir sind einfach da und bringen uns ein, so wie wir sind. Wir zeigen uns – unsere Buckel und schiefen Hüften, unsere sogenannten Neurosen und Verhaltensauffälligkeiten! Überall sind wir zu finden: an der Uni, im Büro, als Selbstständige und Beamte, und auch in der Werkstatt oder im Hartz-IV-Bezug. Wir nutzen den öffentlichen Nahverkehr mit dem Rollstuhl - auch den M41 nachmittags auf der Sonnenallee!* Oder besuchen mit Atemgerät und Liegerollstuhl ein Open-Air-Festival. Wir joggen durch den Park, auch mit einem Bein. Wir gehen ins Restaurant, auch wenn wir unsere Gucci-Blusen bekleckern.
Viele erleben uns als irritierend, wenn wir sind, wie wir sind. Viele meinen, unser Alltag wäre leidvoll. Doch das ist letztlich ihr Problem, nicht unseres. Wir erleben uns lustvoll und zugewandt, verlieben uns, haben Beziehungen und bekommen Kinder. Wir essen, schlafen, lernen, arbeiten, feiern, flanieren und genießen unser Leben – meistens. Wir tun dieselben Dinge, die alle tun, nur dass einige von uns mehr Unterstützung brauchen. Also: Warum sollen wir bemitleidet, gar verändert werden? Warum sollen wir uns anpassen? Es ist gut so, dass wir sind, wie wir sind!
Wir wissen, dass bei weitem nicht alle sich zeigen können. Für viele sind Scham und Angst so umfassend, dass sie nicht öffentlich Präsenz zeigen können. Andere werden mit richterlichem Beschluss weggeschlossen. Vielen werden die Hilfen vorenthalten, die ihnen ermöglichen würden, mobil zu sein und an unserer Parade teilzunehmen. Auch für sie gehen wir auf die Straße. Verrücktheit und Behinderung sind gesellschaftlich bedingt. Dieselben, die in Sonntagsreden die Inklusion beschwören, selektieren uns, wenn wir Unterstützung brauchen, bewerten uns als „krank“ und „unfähig“.
Unser Leben wird mit Unwert belegt, wenn die Möglichkeiten, in der Schwangerschaft Behinderungen festzustellen, ständig weiterentwickelt werden. Wenn allen Schwangeren diese Untersuchungen nahe gelegt werden und ihnen geraten wird, abzutreiben, wenn eineBehinderung vermutet wird. Und nicht nur hier entscheiden weithin Ärzt_innen, Heimleiter_innen, Berater_innen, Therapeut_innen, Gutachter_innen, Kassen und Ämter – nur nicht wir.
In behindertenpolitischen Leitlinien und Maßnahmeplänen kommt uns überall die Inklusion entgegen, aber praktisch passiert nichts. Werkstattträger halten sich für inklusiv, bei denen behinderte Menschen einen Monatslohn von weniger als 200€ haben. Schon seit Jahren gibt es nicht ausreichend Geld für die Unterstützung behinderter Schüler_innen. Prominente sprechen mittlerweile offen von ihren „Depressionen“. Trotzdem werden immer mehr Leute mit psychiatrischen Diagnosen weggeschlossen. Heime funktionieren aus ihrer Struktur heraus entmündigend und isolierend. Das wird mittlerweile als Selbstbestimmung und Assistenz verkauft. Zugleich werden die Bewilligungen für Persönliche Assistenz immer knapper bemessen. So kommt statt selbstbestimmten Leben oft nichts weiter als das Heim daheim dabei heraus.
Medizinische Diagnosen sind wirkmächtig. Doch es hilft uns nichts, wenn Behinderung oder Verrücktheit ausschließlich biologisch erklärt werden. Psychopharmaka sollen die Probleme zudecken. Sie lösen sie nicht. Ebenso werden Superrollstühle und Exoskelette eine barrierefreie Umwelt nicht ersetzen. Nicht wir sind also fragwürdig, vielmehr der Zwang, funktionieren zu müssen, um zu (über)leben, Leistungen zu bringen, um anerkannt zu sein.
Nur wenn wir uns unsere Rechte nehmen, können wir über uns verfügen. Deshalb: Trau dich zu fordern, was du brauchst! Zeige deine Sehnsüchte, dein Begehren, deine Freude, deine Lust! Geh auf die Straße und feier mit uns auf der behindert und verrückt feiern - Pride Parade, am 12. Juli 2014 in Berlin!
Fußnote: *Die Buslinie M41 ist in ganz Berlin wegen ihrer oft völlig überfüllten Busse berüchtigt.