Leser_innenbrief an die Berliner Behinderten Zeitung
Wir als behindert und verrückt feiern Pride Parade-Bündnis haben im April 2013 einen Leser_innenbrief an die Berliner Behinderten Zeitung verfasst um gegen eine Anzeige für den “Marsch für das Leben” in deren aktueller Ausgabe zu protestieren:
Sehr geehrte Redaktion der Berliner Behindertenzeitung,
mit großer Verärgerung haben wir, das Organisationsbündnis der „behindert und verrückt feiern“ Pride Parade, den unkommentierten Aufruf zur Demonstration „Marsch für das Leben“ in der aktuellen Ausgabe der Berliner Behindertenzeitung wahrgenommen.
Eine Gesellschaft, die es behinderten und nichtbehinderten Frauen ermöglicht, eine ungewollte Schwangerschaft unter hygienischen Bedingungen und mit professioneller Hilfe abzubrechen, stellt sicher, dass Frauen bei diesen Eingriffen gesund bleiben und überleben. Denn Frauen brechen Schwangerschaften ab, egal ob dies erlaubt ist oder nicht. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass über 21 Millionen Frauen weltweit jedes Jahr unsichere Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, 8 Millionen haben danach gesundheitliche Probleme. 47.000 Frauen sterben jedes Jahr an den Folgen eines unsicheren Schwangerschaftsabbruchs. Wer wirklich überzeugt ist, dass jeder Mensch gleich wertvoll ist, kann sich nicht für ein Verbot von Schwanger-schaftsabbrüchen stark machen, geschweige denn die Forderung eines „Europas frei von Abtreibung“.
Die selbsternannten Lebensschützer verwenden den Begriff der Euthanasie, der zur Beschreibung vorgeburtlicher Diagnostik indiskutabel ist. Mit dem Begriff wurde zur Zeit des Nationalsozialismus die Ermordung Behinderter und psychisch erkrankter Menschen benannt und legitimiert. Wer dies mit Schwangerschaftsabbrüchen gleichsetzt, relativiert diese Taten und verhöhnt die Opfer. Wer wirklich für die Anerkennung behinderter Menschen streitet, sollte stattdessen einen differenzierten Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte richten.
Die Möglichkeiten pränataler Diagnostik werden seit Jahren vielfältiger und verbreiten sich beständig. So wird es für Schwangere immer schwieriger zu begründen, warum sie diese Untersuchungen nicht vornehmen lassen. Eine breiter werdende diagnostische Angebotspalette weckt teilweise Bedürfnisse und Ängste, die vorher noch gar nicht bestanden, um sie dann zu bedienen. Diese Entwicklungen spiegeln nicht die Förderung der Selbstbestimmung von Schwangeren wider, sondern die Vorstellung, das Leben sei planbar und nach Leistungskriterien optimierbarer.
Statt Frauen in ihrem Recht über ihren eigenen Körper zu beschränken und sie gesundheitlichen Gefahren auszusetzen, sollte sich die politische Kritik auch der Behindertenbewegung gegen die Vorstellungen richten, die hinter den Versprechen der genetischen Diagnostik liegen. Die Rechte von Frauen und behinderten Menschen dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Behindertenbewegung sollte sich stark machen dafür, dass Informationen über das Leben mit einer Behinderung und mit behinderten Kindern einfach zugänglich sind. Sie sollte sich dafür stark machen, dass Menschen, die mit Kindern (behindert oder nichtbehindert) leben, vielfältige Formen der Unterstützung erhalten können.
Das Recht auf Selbstbestimmung gehört zu einer solchen Gesellschaft, denn ein Leben in Würde bedeutet auch, selbst über das eigene Leben bestimmen zu können. Nicht umsonst kämpft die Behindertenbewegung seit Jahrzehnten für dieses Ziel. Wir würden uns freuen, wenn die Berliner Behindertenzeitung in Zukunft kritischer auf Kampagnen reagiert, die gegen das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch und gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen mobilisieren. Unterstützt werden sollten Proteste und Initiativen für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aller.
Viele Grüße, die Organisatorinnen und Organisatoren der behindert und verrückt feiern Pride Parade.