Redebeitrag von Anne - Psychiatriekritik
"Ich kann mich nicht einordnen.“, so sagt der Psychiatriepatient März in Heinar Kipphardts gleichnamigen Buch. Kipphardt meint, dass März dem Wahnsinn verfallen ist, weil die Gesellschaft nicht erkennt, dass sie selbst wahnsinnig ist. Lieber verrückt als ein Rädchen, so März, der von der Gesellschaft als schizophren bezeichnet wird. Schizophrenie ist der Name für einen Zustand, in dem die Betroffenen zum Beispiel Stimmen hören und in den Wahnsinn gehen. Das Buch erschien 1976. Fast 40 Jahre später zeigte eine Studie, dass es jeder dritte Deutsche ablehnte, mit einer Person zusammenzuarbeiten, die an sogenannter Schizophrenie erkrankt ist.
Wir leben in einer Gesellschaft der Angst, in der nicht nur rechtsextreme und rechtspopulistische Einstellungen zunehmen, sondern auch die Handlungen, d.h. es wird verstärkt die AfD gewählt und Gewalt gegen MigrantInnen ausgeübt. Aber auch wir sind gemeint, alle die anders sind, werden von den Rechten bekämpft. Die Grundlage für diese Stimmung hat der Neoliberalismus und sein Menschenbild bereitet. Nur ein Beispiel: Wenn ich in der Klinik bin, und sie uns über „Psychosen“ informieren, geht es nur darum, was in meinem Körper falsch läuft. Die Ärzte sagen, in meinem Gehirn gäbe es zu viel von einem Stoff, der Veränderungen herbeiführt. Dieser Stoff heißt Dopamin. Es wurde uns auf einem Bild gezeigt, wie durch den „schützenden Effekt der Neuroleptika die Reizleitung wieder normalisiert“ wird. Neuroleptika werden Medikamente genannt, die Menschen ruhig stellen. Da eine Psychologin von Reizüberflutung redete, sprach ich sie auf die Reizüberflutung in der Gesellschaft an. Aber eine politische Diskussion war nicht erwünscht. Gesellschaftliche Verhältnisse, die die Menschen kaputt machen,werden ausgeblendet, eine Biographie der Betroffenen gibt es nicht. Es gibt nur den Dopaminüberschuss. Und das Anfang des 21. Jahrhunderts. 300 Jahre früher, Anfang des 18. Jahrhunderts begann man Menschen nach ihrer sogenannten Leistung zu bewerten. In jener Zeit entstand auch die Psychiatrie. Die sogenannten Psychisch Kranken wurden in großen möglichst abgelegenen Verwahranstalten aufbewahrt, sie wurden unsichtbar gemacht. Später wurden ca. 200000 Menschen im Rahmen der Euthanasie von den Nazis ermordet. Erst in den 1970er Jahren begann man in Deutschland eine Psychiatriereform. Es entstand die Sozialpsychiatrie. Das heißt die Psychiatrie kam in die Gemeinden, wo „ambulante Gettos“ geschaffen wurden. Ich meine damit, dass die Psychiatriebetroffenen dort nur unter sich sind und damit wieder sozial isoliert sind. Zur Sozialpsychiatrie gehören der Sozialpsychiatrische Dienst, die Tagesstätten, Betreute Wohnformen, Zuverdienstfirmen, Kontakt-und Beratungsstellen usw. Heute - 40 Jahre nachdem die Psychatriereform angefangen hat - landen immer mehr Psychiatriebetroffene in der Betreuung, in Heimen oder im Maßregelvollzug. Die Psychiatriereform hat die Bewahrung von Ruhe und Ordnung erreicht. Ein Teil der Psychiatriebetroffenen arbeitet zu sehr niedrigen Löhnen in Werkstätten und Zuverdienstfirmen. Oftmals wohnen sie im Betreuten Wohnen, wo andere Leute über ihr Leben bestimmen. Es ist eine neue Industrie entstanden, die ständig neue Angebote schafft und damit auch Arbeitsplätze für Psychologen und Sozialarbeiter. Die Verwaltung von sogenannten „psychisch Kranken“ ist ein Geschäftsmodell geworden. Die Psychiatriebetroffenen leben allerdings oft in Armut. Nicht Inklusion, sondern Exklusion, also Ausschluß ist die Regel. In einer Welt, in der alles immer schneller gehen muss und in der „jeder seines Glückes Schmied“ ist, erhöht sich der Druck auf die Menschen. Für das „Scheitern“ sei man selbst verantwortlich, obwohl man aufgrund der Krisen und Lücken im Lebenslauf chancenlos ist. Daher werden viele an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie werden existentiell vernichtet, in einer Leistungsgesellschaft, in der man immer funktionieren muß. Wer nicht funktioniert, landet in Hartz IV oder der Grundsicherung wegen Erwerbsminderung. Das sind zur Zeit 404 Euro zum Leben, von diesem Geld muß man Energie, Telefon, Internet, BVG zahlen. Es darf vor allem nichts kaputt gehen. Diese Nöte bewegen die Betroffenen: Was ist, wenn die Waschmaschine, der Kühlschrank oder der Computer kaputt geht? Werde ich jemals wieder reisen können?Werde ich mich menschenwürdig einkleiden können? Reicht das Geld, um mich bis zum Ende des Monats ernähren zu können? Macht mich die Armut noch instabiler? Usw. Aber es kann noch schlimmer kommen. Psychiatriebetroffene verlieren verstärkt ihre Wohnungen, entweder in Krisensituationen und während Klinikaufenthalten oder weil sie die hohen Mieten nicht mehr zahlen können. In der Beschwerde- und Informationsstelle Psychiatrie gingen mehrfach Beschwerden ein, dass Betroffene ihre Wohnung verloren hatten, weil ihre Rechtlichen Betreuer Fehler gemacht haben. Es gab auch Beschwerden, dass Kritik im Betreuten Wohnen als Zeichen der psychischen Erkrankung gesehen wird. Die Gesellschaft denkt: Wer diese Zustände kritisiert, kann ja nicht ganz richtig im Kopf sein. Wer selbstbestimmt leben und nicht total bevormundet werden will, muß ja einen Dachschaden haben. Die Betroffenen mit Medikamenten volldröhnen, sie unauffällig und sprachlos machen, das kann die Psychiatrie. Wenn wir aber öffentlich machen, was uns in diesem „normalen“ Leben so fertig macht, dann seien wir verrückt. Wenn die Psychiatriebetroffenen nicht selbst etwas tun, dann wird nichts geschehen. Wir müssen uns selbst wertschätzen, nicht wir sind falsch, sondern die Normalität, das System, der Kapitalismus ist menschenunwürdig. Laut der Hilfsorganisation Oxfam besitzen 62 Megareiche so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, das sind ca. 3,7 Milliarden Menschen. Das ist krank. Diese sogenannte Normalität mit Kriegen, Gewalt, Klimawandel, unfassbarem Reichtum und unvorstellbarem Elend – all das ist verrückt. Inzwischen wird auch in Berlin die Armut immer sichtbarer- viele Obdachlose, Flaschensammler, Bettler, darunter viele Psychiatriebetroffene. Und in diesen kaputten Zeiten werden immer mehr Menschen mit psychiatrischen Diagnosen etikettiert. Statt in Krankheit zu flüchten, sollten wir die gesellschaftlichen Verhältnisse bekämpfen, die uns kaputt machen. Die Welt ist aus den Fugen! Gemeinsam gegen den Wahnsinn der Normalität!