Aufruf 2017
A short version of the call is now also available in many other languages.
Freaks und Krüppel,
Verrückte und Lahme,
Eigensinnige und Blinde,
Taube und Normalgestörte –
kommt mit uns raus auf die Straße und feiert
die vierte „behindert und verrückt feiern“ Pride Parade!
Es wird viel geredet über Inklusion, Gleichstellung, Selbstbestimmung und Teilhabe, gerade vor Wahlen. Doch die Welt sieht anders aus! Die Begriffe wurden von ausgegrenzten und unterdrückten Gruppen geprägt. Sie werden aber immer mehr von den Ausgrenzer*innen und Unterdrücker*innen umgedeutet und missbraucht, indem sie uns einige Krümel hinwerfen und das „Teilhabe“ nennen.
Deshalb fordern wir:
ganzhaben statt teilhaben!
Für jede Station im Leben behinderter und verrückter Menschen gibt es Einrichtungen, von Förderschulen und Werkstätten für behinderte Menschen bis zu Wohn- und Pflegeheimen bzw. Wohngruppen, nicht erst im Alter. Das Problem daran ist, dass all diese Einrichtungen wenig dazu beitragen, dass behinderte und verrückte Menschen ein Leben führen können, das ihren Wünschen entspricht. Vielmehr leben sie in Sonderwelten. Im besten Fall werden sie von engagierten Menschen begleitet, zu oft aber einfach immer noch nur verwahrt. Das Leben in derartigen Einrichtungen folgt einem fremdbestimmten, oft strikten, Tagesablauf. Selbst Toilettengänge sind nur in Abstimmung mit anderen Heimbewohner*innen möglich. Eine individuelle Freizeitgestaltung außerhalb der Einrichtung ist fast unmöglich. Das ist eine unzumutbare Einschränkung der Freiheit, und diese Bedingungen können oftmals auch lebensbedrohlich sein. Es gibt Möglichkeiten, diese ausgefahrenen Pfade zu verlassen und ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen – zum Beispiel Persönliche Assistenz. Wer Persönliche Assistenz zum Leben braucht, muss dafür meist kämpfen und sein komplettes Leben rechtfertigen. Viele Assistenznehmer*innen leben mit der Angst, zum Leben im Heim gezwungen zu werden, weil Persönliche Assistenz den Behörden zu teuer ist. Viele haben gehofft, dass ein Bundesteilhabegesetz das ändert. Das Gesetz, das letztes Jahr dann aber beschlossen wurde, hat diese berechtigten Erwartungen nicht erfüllt. Es wurden sogar neue Möglichkeiten geschaffen, selbstbestimmtes Leben zu verhindern. Wir wollen, dass jede*r so leben kann, wie sie*er will. Wir wollen die volle Teilhabe! Einrichtungen müssen überflüssig gemacht und geschlossen werden.
Doch Institutionen wie die Psychiatrie haben offenbar noch längst nicht ausgedient. In Berlin hat sich die Zahl der Zwangsunterbringungen in zehn Jahren mehr als verdoppelt. Erst im Juni 2016 wurde mit dem neuen Psychisch-Kranken-Gesetz in Berlin – dem sogenannten PsychKG – Zwangsbehandlung erneut legalisiert. Das Gesetz ermöglicht es, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen im Fall akuter Selbst- oder Fremdgefährdung gegen ihren Willen in der Psychiatrie unterzubringen. Dabei reicht schon der Verdacht, um sie einzuweisen und auf unbestimmte Zeit festzuhalten. Die Betroffenen haben nicht die Wahl, ob sie sich mit Medikamenten oder psychotherapeutisch „behandeln“ lassen. Meist werden ihnen Psychopharmaka per Zwang verabreicht. Und das, obwohl 2011 das Bundesverfassungsgericht psychiatrische Zwangsbehandlungen – etwa mit Psychopharmaka und Elektroschocks – verboten hatte. Mit dem PsychKG wird eine Ungleichbehandlung von Menschen mit psychiatrischen Diagnosen festgeschrieben. Zugleich ermächtigt es Ärzt*innen, Zwangsmaßnahmen vorzunehmen, die der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen als Folter klassifiziert hat.
Derselbe UN-Fachausschuss hat auch festgestellt, dass die Gesundheitsversorgung von asylsuchenden und geflüchteten Menschen mit Behinderungen in Deutschland nicht ausreicht. Erschreckend häufig begehen Geflüchtete Suizid. Was bei den Berichten über die schlechten Zustände in Flüchtlingsheimen nicht überrascht: keine Privatsphäre, schlechte Hygiene und trotz traumatischer Erfahrungen kaum Zugang zu psychologischer Aufarbeitung. Gleichzeitig sind die Geflüchteten mit einer Gesellschaftkonfrontiert, in der rassistische Aufmärsche an der Tagesordnung sind und rechte Hetze von Pegida, der „Alternative für Deutschland“ (AfD) und Co. fast zum guten Ton gehört. Die Erfolge der AfD und rechte Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte und linke Einrichtungen schaffen ein Klima der Angst. Die Politik stellt sich dem nur scheinbar entgegen. Stattdessen verschärft sie das Asylrecht und schiebt immer mehr Menschen ab. Menschen, die der Norm nicht entsprechen, werden weiterhin ausgegrenzt und erfahren Gewalt.
Wir leben nach wie vor in einer Gesellschaft, in der es nur Männer und Frauen geben darf, die sich durch Aussehen und Benehmen klar voneinander unterscheiden müssen. Die Menschen, die in diese Vorstellung nicht passen, werden weiterhin gesellschaftlich diskriminiert. Einige werden durch psychiatrische Diagnosen als Kranke oder Menschen mit Störungen dargestellt. Andere wurden als Kinder chirurgischen Eingriffen ausgesetzt, um der starren gesellschaftlichen Vorstellung zu entsprechen, und haben bis heute mit gesundheitlichen Folgen zu kämpfen. Alle diese Menschen vermissen häufig das Verständnis von Familie und Freunden. Mediale Vorbilder und öffentliche Anlaufstellen, die sie unterstützen könnten, fehlen.
Wir sind uns durchaus bewusst, dass nicht allen nach Feiern zumute ist. Vielen wird die Unterstützung nicht gewährt, die sie bräuchten, um an der Demonstration teilzunehmen. Viele können nicht anreisen oder dürfen nicht einreisen.
Wir wollen eine Gesellschaft, die Barrieren abbaut und Menschen nicht als „krank“, „gestört“ oder „nicht normal“ aussortiert. Im Kapitalismus herrscht der Zwang, funktionieren zu müssen – auch für jene, die längst abgeschrieben wurden. Wir aber wollen selbstbestimmt leben. Wir wollen anerkannt werden, egal wie wir sind, egal was wir leisten. Wir wehren uns dagegen, in Psychiatrien eingesperrt zu werden, in Behindertenwerkstätten arbeiten und in Wohnheimen leben zu müssen. Stattdessen fordern wir echte Barrierefreiheit, Ganzhabe, Assistenz, Inklusion und Respekt. Das bedeutet für uns, dass wir z. B. jeden U-Bahnhof erreichen können, in jedem Club tanzen können, in unserem Lebenslauf einen Klinikaufenthalt nicht verstecken müssen und in einer Firma nicht als Inklusions-Aushängeschild verwertet werden.
Für all das und für die ganze Bäckerei – statt nur Krümel – gehen wir
am Samstag, den 15. Juli 2017,
auf die Straße.
Dort zeigen wir uns so, wie wir sind – verrückt, humpelnd, sonderbar, verstört, lahm, stotternd, abwegig, befremdlich. Und deshalb:
Trau auch du dich zu fordern, was du brauchst und was dir zusteht!
Zeig deine Sehnsüchte, deine Ansprüche, dein Begehren!
Und feier mit uns „behindert und verrückt“!
Damit es euch auf der Parade gut geht, versuchen wir, sie so barrierefrei wie möglich zu machen: Sowohl am Start als auch am Ziel stehen barrierefreie Toiletten zur Verfügung. Es gibt ein Unterstützungsteam, das du ansprechen kannst, und Möglichkeiten zum Ausruhen. Die Redebeiträge werden in Deutsche Gebärdensprache übersetzt. Kommt alle!