Redebeitrag Bündnis behindert und verrückt feiern
ganzhaben statt teilhaben
Freaks und Krüppel, Verrückte und Lahme, Eigensinnige und Blinde, Taube und Normalgestörte – wir feiern heute gemeinsam mit euch die vierte „Behindert und verrückt feiern!“-Pride Parade in Berlin!
(Laut) Herzlich willkommen! (Päuschen für Applaus)
(Lauter) Schön, dass ihr da seid!
Seit 2013 erobern wir die Straßen in Berlin-Neukölln und Kreuzberg einen ganzen Tag lang für unsere Anliegen.
Die Gesellschaft belegt uns mit Vorurteilen und verweigert uns gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit?! Dagegen wehren wir uns! Mit drei Paraden haben wir in den vergangenen Jahren deutlich gemacht: Wir nehmen uns unseren Raum auf der Straße, wir haben Rechte und die lassen wir uns nicht nehmen!
Es wird viel über Teilhabe und Inklusion geredet, doch unsere Welt sieht anders aus. Was uns als "Teilhabe" verkauft wird, sind in Wahrheit nur Krümel. Deshalb lautet unser Motto dieses Jahr: ganzhaben statt teilhaben.
Wir fordern Selbstbestimmung statt Bevormundung!
Letztes Jahr wurde das sogenannte "Bundesteilhabegesetz" beschlossen, das nun nach und nach umgesetzt wird. Viele Betroffene haben gehofft, dass das Gesetz die Situation von behinderten Menschen besser machen würde. Doch leider kümmert sich das Gesetz nur bedingt um unsere Bedürfnisse. Es offenbart vielmehr, wie die "Strategie der Krümel" funktioniert: Anstatt die nennenswerten, versprochenen Veränderungen umzusetzen, werden uns hie und da kleine Verbesserungen als ganz großer Wurf präsentiert. Damit sollen wir uns zufrieden und nun bitte Ruhe geben.
Aber das kommt gar nicht in Frage!
Noch immer können Ämter beinahe willkürlich über Leistungen entscheiden. Statt uns mehr Möglichkeiten zu eröffnen, selber über unser eigenes Leben zu entscheiden, schränkt uns das Gesetz nur noch mehr ein.
Auch weiterhin wird das Leben von behinderten Menschen von sogenannten Expert*innen geplant. Jetzt ist zwar vorgeschrieben, dass behinderte Menschen daran beteiligt werden müssen. Das wird aber wieder darauf hinaus laufen, dass sie sich für das, was sie wollen, rechtfertigen müssen. Und auch für das, was sie nicht wollen. Ohne konkretes Ziel durchs Leben gehen? Nach Ansicht der Behörden unmöglich!
Aber genau das wollen wir: Wir wollen, dass alle Menschen so leben können wie sie wollen, ohne sich erklären zu müssen. Wir wollen nicht teil-, sondern Ganzhaben! Wir (Freaks und Krüppel, Lahme und Blinde, Verrückte und Eigensinnige, Taube und Normalgestörte) sind nicht irgendein vernachlässigbarer Teil dieser Gesellschaft. Wir sind ein selbstbestimmter, ein selbstbewusster Teil dieser Gesellschaft!
Einrichtungen sollen überflüssig gemacht und geschlossen werden, denn dort sind Fremdbestimmung und Verwahrung Alltag. Auch Vernachlässigung und Gewalt sind Teil dieses Systems.
Ja, auch behinderte und verrückte Menschen müssen in einer freien Welt ihr Recht ausüben dürfen, selbst über ihr Leben zu entscheiden. Persönliche Assistenzen können das ermöglichen. Doch viele behinderte Menschen trauen sich nicht, nach einer solchen Persönlichen Assistenz zu fragen. Zu groß ist die Angst, zum Leben im Heim gezwungen zu werden, weil eine Persönliche Assistenz den Behörden zu teuer ist.
Eine positive Entwicklung jedoch – und das können wir dem Bundesteilhabegesetz zugute halten – ist die mannigfaltige Reaktion darauf. Es hat dafür gesorgt, dass die Behindertenbewegung neue Kraft bekommen hat. Es gab in vielen Orten Gegendemos und Aktionen. Gruppen sind zusammengekommen, die vorher nebeneinander her gelebt hatten.
Auch Psychiatrien sind Institutionen, die offenbar noch nicht ausgedient haben. Hier werden verrückte Menschen häufig gegen ihren Willen eingesperrt. Die Zahl solcher Zwangsunterbringungen hat sich allein in Berlin in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Erst letztes Jahr wurden mit dem Psychisch-Kranken-Gesetz Zwangsbehandlungen erneut erlaubt. In Berlin! Ganz so, als ob das die einzige Lösung wäre, erlaubt es das Gesetz medizinischem Personal und Behörden, Menschen mit psychiatrischen Diagnosen bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung gegen ihren Willen in der Psychiatrie unterzubringen. Was für den einen oder die andere vielleicht sogar plausibel klingen mag, ist bei näherer Betrachtung eine fatale Entwicklung: Denn oft reicht schon der Verdacht, um Menschen in die Psychiatrie einzuweisen und auf unbestimmte Zeit dort festzuhalten. Und wenn eine Person eingewiesen wurde, hat sie nicht die Wahl, ob sie Psychopharmaka nehmen will oder nicht. Dass das Bundesverfassungsgericht 2011 solche psychiatrische Zwangsmaßnahmen verboten hat, spielt dabei praktisch keine Rolle...
Eine weitere Sache, die nicht genug wahrgenommen wird, ist folgende: Nach wie vor werden Menschen von der Mehrheit der Gesellschaft ausschließlich in Frauen und Männer eingeteilt. Sie sollen sich entsprechend dieser Einteilung verhalten. Leute, die dieser Vorstellung nicht entsprechen können oder wollen, werden ausgegrenzt und erfahren Gewalt. Viele von ihnen werden mit psychiatrischen Diagnosen versehen und als krank oder gestört dargestellt. Andere wurden als Kinder operiert, um mit ihrem Körper der gesellschaftlichen Vorstellung von Geschlecht zu entsprechen. Das alles hat dem Wohlbefinden der betroffenen Personen häufig viel mehr geschadet als genutzt.
Wir fordern Selbstbestimmung statt Bevormundung! Wir wollen, dass alle Menschen selbst bestimmen können, ob sie männlich, weiblich, keines von beidem oder etwas ganz anderes sind.
Heute, im Jahr 2017, können wir hier nicht stehen und über einen Mangel an Selbstbestimmung reden, ohne auf das Schicksal Geflüchteter einzugehen. Auch geflüchtete Menschen im Asylverfahren können in Deutschland nicht selbst darüber bestimmen, wie sie leben wollen. Die Zustände in den Lagern, in denen geflüchtete Menschen im Asylverfahren wohnen müssen, sind sehr schlecht: Sie haben kaum Privatsphäre, es gibt zu wenige Waschräume und der Zugang zum Gesundheitssystem ist für sie sehr stark eingeschränkt. Das macht die Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen nahezu unmöglich. Gleichzeitig sind rassistische Aufmärsche von AfD, Pegida und anderen rechten Gruppierungen an der Tagesordnung. Das schafft ein Klima der Angst. Geflüchtete Menschen, die auch behindert und/oder verrückt sind, haben es durch diese rassistischen Zustände noch schwerer. Wie alle Menschen, die nicht der weißen, deutschen Norm entsprechen, werden sie ausgegrenzt und erfahren Gewalt.
Doch statt geflüchtete Menschen zu schützen, verschärft die Regierung das Asylrecht und schiebt immer mehr Geflüchtete ab.
Wir fordern ein Ende dieser unwürdigen Politik. Wir fordern Anerkennung statt Abschiebung!
Seit der letzten Pride-Parade vor zwei Jahren ist die Gesellschaft deutlich nach rechts gekippt. Damals war für viele kaum vorstellbar, dass Begriffe wie "Leitkultur" diesseits der AfD wieder ernsthaft diskutiert würden. Zwar zählen nun offiziell "Gleichberechtigung" und der Schutz bestimmter "Minderheiten" zur angeblichem "Leitkultur" in Deutschland dazu. Wenn man aber sieht, wie sich die Fans dieses Konzepts z.B. gegenüber Frauen, queeren, behinderten oder verrückten Menschen verhalten oder welche Ziele deren Politik verfolgt, kann man das nur als Lüge bezeichnen. Immerhin wollen dieselben Leute Förderschulen, Werkstätten und Wohnheime und damit die Teilung der Gesellschaft aufrechterhalten. Sie wollen Zwangsbehandlungen erleichtern und verrückte Straftäter*innen lebenslang wegsperren. Sie wollen die Ehe zwischen Geld verdienendem Mann und Kinder erziehender Hausfrau weiterhin als vorherrschendes Lebensmodell beibehalten. Und sie wollen unliebsame geflüchtete Menschen möglichst schnell wieder abschieben und ihnen bis dahin nur so viel Unterstützung zugestehen, dass sie noch ins Flugzeug steigen können.
Für uns ist deshalb klar: Echte Inklusion und eine einzige "Leitkultur" schließen sich aus! Wir kämpfen gegen Lippenbekenntnisse!
Wir wollen eine Gesellschaft, die Barrieren abbaut und Menschen nicht als „krank“, „gestört“ oder „nicht normal“ aussortiert. Im Kapitalismus herrscht der Zwang, sich anzupassen, funktionieren zu müssen – auch für jene, die längst abgeschrieben wurden. Wir aber wollen selbstbestimmt leben. Wir wollen anerkannt werden, egal wie wir sind, egal was wir leisten. Wir wehren uns dagegen, gegen unseren Willen in Psychiatrien eingesperrt zu werden, in Behindertenwerkstätten arbeiten und in Wohnheimen leben zu müssen. Stattdessen fordern wir echte Barrierefreiheit, Ganzhabe, Assistenz, Inklusion und Respekt. Das bedeutet für uns zum Beispiel, dass wir jeden U-Bahnhof erreichen können, in jedem Club tanzen können, in unserem Lebenslauf einen Klinikaufenthalt nicht verstecken müssen und in einer Firma nicht als Inklusions-Aushängeschild verwertet werden. Was wir fordern, ist nach unserem eigenen Willen frei leben zu können.
Wir denken heute auch an alle, denen nicht nach Feiern zumute ist. Und wir denken an diejenigen, die nicht hier sein können, obwohl sie es gerne wären. Vielen wird die Unterstützung nicht gewährt, die sie bräuchten, um heute an der Parade teilzunehmen. Viele können nicht anreisen oder dürfen nicht einreisen.
Wir demonstrieren für euch mit!
Wir zeigen uns heute so, wie wir sind: verrückt, humpelnd, sonderbar, verstört, lahm, stotternd, abwegig, befremdlich und genau so einfach großartig!
Fordert, was ihr braucht, was euch zusteht! Zeigt eure Sehnsüchte, Ansprüche, euer Begehren! Und vor allem, zeigt euch nicht nur heute, sondern jeden Tag!
Und jetzt lasst uns gemeinsam (laut) „behindert und verrückt feiern“!