GLITZERKRÜCKE 2019

Liebe Leute! Liebe Freaks und Krüppel! Verrückte und Lahme! Eigensinnige und Blinde! Taube und Normalgestörte!

Diejenigen, die in den letzten Jahren bereits mit uns gekämpft haben, werden sich erinnern: an die einzigartige, wunderschöne, rosa-lila-silberne Krücke, vorgesehen für nur die schlimmsten behindertenpolitischen Errungenschaften.... Ein ganzes Jahr musste sie wieder warten, unabgeholt, sie führte ein trauriges Dasein in der Paradenzentrale, aber heute ist es wieder so weit: Hier ist sie und sie strahlt wie nie zuvor – die mit Glanz und Glitza versehene Krücke – der exklusive Preis, den nicht jede/r haben kann!

Wir haben euch online wieder gebeten, Institutionen, Vereine, Behörden, Gesetze oder Unternehmen zu nennen, die sich in besonderer Weise darum verdient gemacht haben, Behinderte und Verrückte auszugrenzen, auszusortieren und zu benachteiligen.

2014 ging die heißbegehrte Krücke unter vielen Vorschlägen an die Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in Cuxhaven, die mit der Bundeswehr zusammenarbeitet. 2015 haben wir die „Urania“ dafür geehrt, dass sie Peter Singer ein Podium für seine behindertenfeindlichen Thesen gegeben hat. Und 2016 haben wir die Bundesregierung dafür geehrt, dass sie auch nach Jahren kein barrierefreies Notrufsystem zustande bekommen hatte. 2017 an die Lebenshilfe, in deren Einrichtungen behinderte Menschen misshandelt wurden und deren erste Reaktion auf die Aufdeckung des Skandals ein Angriff auf die Journalistin war. Letztes Jahr ehrten wir Bayern für sein neues Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz. Das Land Bayern wollte damit die Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen erleichtern, um die Bevölkerung von vermeintlich Kranken zu schützen. Heftige Proteste haben bewirkt, dass das Gesetz daraufhin abgeschwächt wurde, trotzdem ist es immer noch ein riesiger Rückschritt und ein Skandal.

Und auch in diesem Jahr habt ihr uns viele Vorschläge geschickt. Unsere Jury musste sich jedoch leider für drei entscheiden, die wir euch zur Wahl stellen. Nach einem knallharten Auswahlprozess, langen Beratungen und Diskussionen stehen diese nun fest. Hier sind sie:

1. Bethel-Werkstätten und Bundesregierung

Behinderte und verrückte Menschen, die in den Behindertenwerkstätten in Bethel arbeiten bekommen verdammt wenig Geld. Das haben sie mit denen in anderen Werkstätten gemeinsam. Deswegen zahlt der Staat ihnen Grundsicherung, ungefähr so viel wie Hartz IV. Ein großer Teil des Lohns wird mit der Grundsicherung verrechnet. Einmal im Jahr gibt es Weihnachtsgeld. Dann steht auf dem Lohnzettel ein halbwegs erträglicher Betrag. Doch ach, das Bisschen mehr auf dem Papier führt nicht zu mehr Geld auf dem Konto! Auch das Weihnachtsgeld wird verrechnet. Und das passiert noch nicht mal automatisch, indem die Werkstatt gleich einen Teil ans Sozialamt zahlt. Nein, man muss selbst dem Amt schreiben, was man verdient. Ein paar Euro mehr machen also verdammt viel Arbeit. Wir nennen das Verarsche!

2. Das Landes-Sozialamt im Saarland

Markus Igel lebt in einer Wohnung in Bad Kreuznach, das ist im Bundesland Rheinland-Pfalz. Er braucht Tag und Nacht Assistenz. Weil er irgendwann mal im Bundesland Saarland gewohnt hat, muss das Landes-Sozialamt im Saarland die Assistenz bezahlen. Das haben mehrere Gerichte gesagt. Das Amt will aber trotzdem nicht zahlen. Und es hat viele Ideen, warum es nicht tun will, was die Gerichte ihm gesagt haben. Das Amt will nur einen Platz im Heim bezahlen oder das Geld, das für Pfleger*innen aus Ost-Europa reicht.

Aber keine Assistenz. Und es hat einen Betrag berechnet, den es zahlen will. Aber: Dabei hat es nicht daran gedacht, dass für Assistenten auch Beiträge an die Sozial-Versicherungen gezahlt werden müssen. Wir finden, das geht viermal nicht: Menschen ins Heim zwingen wollen, Menschen aus anderen Ländern ausbeuten wollen, keine Sozial-Versicherungs-Beiträge zahlen wollen und nicht auf Gerichte hören wollen!

3. Klinikum Frankfurt Höchst

In der Sendung „Team Wallraff“ war Folgendes zu sehen: Im Klinikum Frankfurt Höchst wurden mehrere Menschen fixiert (das bedeutet: gefesselt) und dann zusammen in einen Raum gesperrt, ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Das war 2018. Heute ist das gesetzlich verboten, 2018 war es im Klinikum normal. In diesem Klinikum wurden Menschen bis zu 8 Wochen fixiert. Betroffene hatten 16 Sekunden Zeit für Gespräche mit dem Psychiater, ohne Privatsphäre. Pfleger*innen und Psychiater*innen hatten nicht genug Zeit für Betroffene und beleidigten diese. Das Klinikum war überfüllt und verschmutzt.

Viele Betroffene hatten das Klinikum kritisiert. Aber das Klinikum Frankfurt Höchst, die Stadt Frankfurt und das hessische Sozialministerium taten so, als ob sie von nichts wüssten. Das Klinikum wollte den Bericht von „Team Wallraff“ verbieten lassen. Erst nach den Medienberichten änderten die Verantwortlichen etwas, aber nicht genug. Kontrollen wurden vorher angekündigt. Ein Psychiater, der früher im Klinikum gearbeitet hat, soll aufklären. Eine gesetzlich vorgeschriebene Besuchskommission wird nach langer
Verzögerung endlich eingerichtet.

Wir wissen nicht, wie viele Zwangsmaßnahmen das Klinikum Frankfurt Höchst durchführt. Die Bundesregierung findet die Lebensbedingungen in der
Psychiatrie nicht wichtig genug, um eine Statistik über Zwangsmaßnahmen zu führen.

Leider bleiben fast alle Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie
unsichtbar. Aber die preiswürdigen Missstände im Klinikum Frankfurt Höchst sind auch in den Medien sichtbar geworden.

Wir nominieren das Klinikum Frankfurt Höchst - dafür, dass die Leitung dort
jahrelang weggeschaut hat, als Psychiatrie-Betroffene misshandelt und
abgewertet wurden.

So, das sind die drei Nominierten:

Ja ja, die Glitzerkrücke verdienen alle, aber nur eine*r kann sie bekommen.
Jetzt seid ihr dran, jetzt werden wir zusammen den verdienten Gewinner aussuchen: Buht, klatscht, pfeift, stampft, hupt oder wedelt mit euren Händen. Zeigt, wer die die Glitzerkrücke am meisten verdient hat.

Wir haben ein Ergebnis! Die Glitzerkrücke der Pride Parade 2019 geht an das Klinikum Frankfurt-Höchst.

Wir gratulieren.