Redebeitrag zu Autismus und Aktivismus
Dieser Beitrag ist von Elena Chandler. Elena ist autistische Aktivistin. Ihr Thema hier ist „Autismus-Aktivismus im Wandel: Heilen oder nicht Heilen“.
In April 2019 erschien ein Artikel zum Thema Behinderung in einer Zeitschrift für Sonderpädagogik. Der Text hieß: „Extremismus: Behinderung als Mode“. Laut dem Autor, würde die Behindertenbewegung Behinderung verharmlosen. Und behinderte Aktivist*innen – insbesondere Autist*innen – würden ihre Behinderung als „schicke, begehrenswerte Identität“ tragen. Dem Autor nach, ist Behinderung nichts als tragisch; die Ansicht, dass ‚normal‘ eine Einbildung sei, sei nur lächerlich. Und wenn wir wegen unserer Behinderung nicht trauern, seien wir doch nicht echt behindert. Wir fänden das Behindertsein halt „schick“.
Dieser Artikel verkörpert die herrschende Form von Autismus-Aktivismus, die beinah ausschließlich von Nicht-Autist*innen vorangetrieben wird; hauptsächlich von Eltern und Fachleuten. Dabei sind die Ansichten Autist*innen selbst zum größten Teil ausgeschlossen. Autismus wird als Seuche dargestellt, und als Krise. Aber als eine Krise, die sich im Körper von autistischen Menschen befindet, und die aus ihm herausfließt, um die ganze Familie in eine Krise zu stürzen. Nicht- Autist*innen stehen im Mittelpunkt der Aufforderung für Hilfe; so sehr, dass wenn Eltern oder Betreuer*innen Aktivist*innen töten, wird das regelmäßig gerechtfertigt. Die Familie brauchte Hilfe. Der Autismus selbst war daran schuld, und weil der Autist den Autismus in sich trägt, ist es eine Tragödie und kein Mord.
Die Hilfe, die gesucht wird, wird „Heilung“ genannt, wobei lebende Autist*innen nicht geheilt werden können, abgesehen von einer Hirntransplantation. Stattdessen bezieht sich diese „Heilung“ auf die Genforschung, worauf Autismus-Forschung weitgehend konzentriert ist. Viele in der autistischen Community befürchten, Autist*innen werden im Mutterleib identifiziert und abgetrieben werden, sobald die passenden Markergenen identifiziert werden, denn genau das erlebt schon die Down-Syndrom Community, wo die Geburtenrate so steil gefallen ist, dass in manchen Ländern Europas, kaum jemand mit Down-Syndrom noch geboren wird.
Es gibt sehr wenig Debatten über die Tatsache, dass, im Falle von Entwicklungsstörungen, die Lösung die „Früherkennung“ sein sollte, weil die öffentliche Meinung selten die Annahme in Frage stellt, dass behinderte Menschen ein minderwertiges Leben führen. Manche Philosophen wie Peter Singer sagen, dass es für die Gesellschaft besser wäre, würden wir nicht existieren. Länder wie die Niederlande und Belgien bieten schon Sterbehilfe für Menschen, allein weil sie autistisch sind. Dabei kann man nie sagen, dass eine solche Entscheidung ohne Zwang getroffen wird, solange die nötige Hilfe und Unterstützung nicht zugänglich sind.
Und das sind sie nicht. Angemessene Vorkehrungen für autistische Erwachsene existieren kaum. Arbeitsfähige Autist*innen haben eine Beschäftigungsquote von 15%, während 90% von ihnen bei der Arbeit gemobbt werden. Mit einer Lebenserwartung von 48 Jahren, haben sogenannte „hochfunktionale“ Autist*innen eine Selbstmordrate, die neunmal so hoch ist wie die von Nicht-Autist*innen. Dennoch gibt es sehr wenig Forschung, die unsere Lebensqualität verbessern oder unsere Lebenserwartung verlängern könnte. Top-Spezialisten beschreiben uns als „Menschen nur im körperlichen Sinne“, und behaupten, dass wir mehr gemeinsam mit Schimpansen und Robotern als mit Menschen haben. Also was an Autismus schick sein sollte ist nicht klar.
Es gibt aber gleichzeitig eine Gegenströmung im Autismus-Aktivismus, die von autistischen Menschen vorangetrieben wird, die entschlossen sagen: „Nichts über uns, ohne uns!“ Das Menschliche Hirn hat viele Ausprägungen, und die neurologische Struktur und Fähigkeiten, sowie Defizite, mit der wir geboren sind, mindert nicht unseren Wert als Menschen. Stolz-sein heißt, sich nicht schämen, dass man behindert ist. Und es ist nicht unsere Pflicht, zu betrauern, dass wir so sind, wie wir sind. Nur, weil Andere damit Probleme haben.. Autist*innen sind von Grund auf anders verdrahtet. Unsere Sinnesverarbeitung, Wahrnehmung, Kommunikation, Humor, Interessen, usw. sind grundlegend anders aber wir sind trotzdem Menschen wie alle anderen. Die Neurodiversitätsbewegung verlangt vor allem, dass alle mit Menschenwürde behandelt werden, unabhängig von ihrer neurologischen Struktur.
Was Aktivist*innen und Befürworter der Neurodiversität wollen ist auch das Recht, mitreden zu dürfen, denn was in der Autismus-Forschung fehlt sind die Einsichten von Menschen, die diese Behinderung erleben. Wir wollen mitbestimmen dürfen, was an Unterstützung und Hilfe nötig ist, welche Forschung tatsächlich unser Leben verbessern könnte. Wir hätten diesen Top-Spezialisten sagen können, dass wir weder Roboter noch Schimpansen sind. Nicht-autistische Aktivist*innen bevorzugen Autist*innen die nicht sprechen können, und die sie als Bauchrednerpuppe benutzen können. Und uns wird ständig gesagt, dass unser Funktionsniveau zu niedrig oder zu hoch ist, um uns über Autismus zu äußern. Der schmale Grat dazwischen, wo man mutmaßlich sprechen dürfte, ist nicht zu finden, und das muss sich ändern.
Autist*innen haben was anzubieten und wir wollen die kulturelle Kluft zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen überbrücken. Viele von uns sind Mentoren für Familien mit neu diagnostizierten Kindern, und versuchen den Eltern ein besseres Verständnis der Erlebnisse ihres Kindes anzubieten. Viele von uns machen Peer-Beratungen mit neu-diagnostizierten Erwachsenen. Wir schreiben Bücher und Blogs mit der Hoffnung, neurotypische Menschen einen Blick in unsere Welt zu geben und mehr gegenseitiges Einfühlungsvermögen zu verschaffen. Wir verbringen unser ganzes Leben damit, die neurotypische Welt zu beobachten, und uns anzupassen. Aber um diese Kluft zwischen uns zu überbrücken, brauchen wir die Gegenleistung derjenigen, die nicht-autistisch sind.
Vielleicht können wir unsere Inklusion zur schicken Mode machen.