Rede vom Gen-ethisches Netzwerk
Diese Rede wurde vom Gen-ethisches Netzwerk auf der behindert und verrückt feiern Pride Parade 2015 gehalten:
Hallo allerseits.
Wie toll, dass wir wieder so viele sind! Denn es kann gar nicht genug Leute geben, die auf die Straße gehen und zeigen, dass sie, so wie sie sind, gut sind.
Dass die Norm, das angeblich „Normale“, mit dem wirklichen Leben nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Dass die Unterscheidung in „Normal“ und „Verrückt“ oder in „Normal“ und „Behindert“ eine ausgedachte ist. Sie hilft nur denen, die zur Abweichung erklären, wovor sie Angst haben. Deshalb ermöglicht die Vorstellung vom „Normalen“ auch, dass diese tolle Leistungs- und Verwertungsgesellschaft immer weiter funktioniert - gegen jede Vernunft.
Dagegen zeigen wir heute, dass es nichts über uns aussagt, ob wir als behindert oder nicht-behindert, krank oder gesund, verrückt oder nicht verrückt gelten. Wir sind keine Diagnosen! Wir sind auch nicht die medizinischen Bezeichnungen, die uns beschreiben sollen. Uns macht aus, wie wir miteinander sind, wie es uns gerade geht, was wir erleben, welchen Verhältnissen wir ausgesetzt sind. Dass wir Fehler machen und gute Sachen, dass wir uns irren und Recht haben, dass wir nie fertig werden – dass wir veränderliche Menschen sind, und dabei immer einzigartig.
Deshalb lassen wir uns - wenn überhaupt - auch nur messen an unserer Fähigkeit zu Solidarität, zum Miteinander, zu Gefühlen, zu Aufmerksamkeit füreinander. Manchmal mögen uns diese Fähigkeiten abhanden kommen, denn diese Gesellschaft macht das Miteinander schwer. Aber auch das rechtfertigt Abwertung nicht.
Ausgrenzung, Abschiebung oder das Wegschließen sind kein Miteinander, sie verhindern es!
Eine Bewertung von Menschen und ihren Zuständen, ihren Lebensformen oder ihren Fähigkeiten macht niemals und nirgends Sinn!
Viel zu viele sehen das nicht. Immer noch ist die Definitionsmacht der Medizin kaum gebrochen. Dafür gibt es viele Gründe. Ein Grund, auf den wir vom Gen-ethischen Netzwerk immer wieder stoßen, ist die Art der Forschung im Kapitalismus: Sie verfeinert und erweitert das medizinische und das psychiatrische Diagnosesystem ständig. Seit es sie gibt, erklärt die medizinische Forschung immer mehr Zustände zur Abweichung. Dein Kind ist fünf und zappelt, wenns am Tisch sitzt? ADHS, ADHS! Du trinkst zweimal pro Woche Bier? Suchterkrankung, Suchterkrankung! Du hast keine Lust aufzustehen, um bei deinem schlecht bezahlten, prekären 10 Stunden-Job anzutanzen? Depression, Depression!
Seit einigen Jahrzehnten erweitert die Medizin dieses ausufernde Diagnose-System noch in eine andere Richtung: in die Zukunft. Die Genomforschung sucht nach Zusammenhängen zwischen biologischen Eigenschaften und Gesundheit, Verhalten oder „Unfähigkeiten“. Dabei geht nicht mehr nur um bestehende Zustände von Menschen, nein, es geht auch um möglicherweise eintretende, zukünftige. Versprochen wird, in der Zukunft auftretende Abweichungen vom „Normalen“ vorherzusagen.
Damit macht die Medizin sich einmal mehr die Angst vor Leistungsabfall, vor einem Nicht-Funktionieren, vor Abhängigkeit von anderen zunutze, die diese Gesellschaft beherrscht. Und verstärkt sie zugleich. Denn mit der Vorhersage von „Risiken“ ist das Versprechen verbunden, sie auch vermeiden zu können – durch die „richtige“ Lebensweise, „rechtzeitige“ Untersuchungen oder andere dubiose Vermeidungsstrategien, pardon, Vorbeugungsstrategien.
Wem nutzt das Versprechen, die Zukunft zu kontrollieren? Auf jeden Fall den Menschen, die im Medizinsystem in Forschungsprojekten arbeiten und Unikarrieren machen. Oder die Unternehmen gründen, um diagnostische Tests zu entwickeln und zu verkaufen.
Es nutzt der kapitalistischen Wirtschaft, und darauf zielt die Politik der Bundesregierung seit Jahren. Die Forschung an der Genetik wird mit großen Summen öffentlicher Gelder gefördert, mit nur einem erklärten Ziel: Wirtschaftswachstum.
Aber wir brauchen keine Vorhersagen über unsere vermeintliche Zukunft. Wir brauchen auch nicht noch mehr Diagnosen und medizinische Bezeichnungen. Was wir brauchen, ist eine andere Gesellschaft! Eine Gesellschaft, in der wir nicht ständig aufgefordert sind, unseren Wert unter Beweis zu stellen, unseren Nutzen, unseren Willen zur „Normalität“. Eine Gesellschaft, in der wir einfach sein können, gleich in unserer Einzigartigkeit, verschieden in unserem Befinden.
Für eine solche Gesellschaft lasst uns nie aufhören zu kämpfen, gemeinsam und allein, in den angeblich großen wie in den angeblich kleinen Dingen! Und lasst uns feiern, immer wieder, behindert und normalgestört, nicht behindert und verrückt, eigensinnig und solidarisch!