Rede von Matthias Vernaldi
Diese Rede hat Matthias Vernaldi auf der behindert und verrückt feiern Pride Parade 2015 gehalten:
Liebe Paradierende!
Vor etwas mehr als zehn Jahren wurden die Stimmen von Menschen immer lauter, die in den 50er bis 70er Jahren als Kinder und Jugendliche in Heimen für Säuglinge, Waisenkinder, sogenannte Verwahrloste oder Schwererziehbare leben mussten. Sie berichteten von Gewalt, Misshandlungen, Ausbeutung und Missbrauch. Der Petitionsausschuss des Bundestags beschäftigte sich damit und berief einen runden Tisch ein. In Folge wurden zwei Fonds gebildet – einer für die BRD bis 1975 und einer für die DDR bis 1990. Aus denen heraus wird den Opfern Zuwendung und Hilfe geleistet. Selbst wenn die Zahlungen nicht besonders hoch sind, stellen sie für viele eine Anerkennung des erfahrenen Unrechts dar.
Auch ich war von 1967-1977 in Heimen untergebracht. Der Grund dafür war, dass ich zur Schule gehen musste, aber nicht gehen konnte. Ich konnte schon als kleiner Junge nicht laufen. Zu dieser Zeit gab es in der ganzen DDR keine Schule für Körperbehinderte, die ohne ein Internat funktionierte. Erst 20 Jahre später entstanden hier kurz vor Ende des Systems zaghafte Ansätze einer wohnraumnahen Beschulung. Mein Großvater hatte die Idee, dass ich in meinem Heimatort wie alle anderen Kinder auch in die Schule ging. Das würde allerdings seitens der Volksbildung als absoluter Blödsinn abgestempelt. Behinderte mussten extra unterrichtet werden.
Was die Opfer der Heimunterbringung vor zehn Jahren ans Licht brachten, entsprach genau dem Erleben meiner Schulzeit.
Die ersten sechs Schuljahre war ich im thüringischen Gotha in einer staatlich geführten Einrichtung untergebracht. Sie lag mitten im Wald lag und war von hohen Mauern umgeben. Wir sahen nie andere Menschen als das pflegerische und pädagogische Personal.
Es gab dort als Strafort die Mäusekiste. Eine hohe große Holzkiste, die auf dem kalten finsteren Dachboden stand. Wer aufsässig war, wurde da hineingesetzt. Es handelte sich um Kinder, die schwere Behinderungen hatten, sich also kaum bewegen konnten. Sie wurden dort im Dunkeln und in der Kälte alleingelassen – für wie lange, wussten sie nicht. Man sagte, in der Kiste gäbe es viele Mäuse, tote und auch lebendige, die dich anknabbern konnten.
Einmal kam mein Freund Uwe – er war elf Jahre alt – mit Pflegerin, die damals noch Schwester genannt wurde, in Streit. Der steigerte sich, bis sie ihn aus dem Rollstuhl riss und aufs Bett warf. Er hatte schwache Muskeln und Gelenke und musste behutsam behandelt werden. Bei dieser Aktion hat er sich bestimmt einiges gestaucht und verzerrt. Voller Schmerz und Ohnmacht lag er da und heulte. Dann brüllte er: „Wenn ich ein Gewehr hätte, ich würde alle Schwestern an die Wand stellen und dann – ratatatam!" Das hörte der Chefarzt, der zufällig in der Nähe des Zimmers war. Er kam herein und herrschte ihn an: „Wenn hier welche an die Wand gestellt werden, ist ja wohl klar, wer.“ Das ist für mich bis heute der klarste Ausdruck des Geistes, der damals herrschte.
Es gäbe noch viel zu berichten: von fremdnützigen medizinischen Eingriffen, also gefährlichen Operationen, die nicht der Therapie, sondern der Forschung dienten, bis hin zu der evangelischen Schwester, die als Heimleiterin Kinder und Jugendliche körperlich und psychisch misshandelte , sie sogar sexualisierter Gewalt aussetzte, ohne dass sie, als das nicht mehr zu verheimlichen war, vor einem Gericht stehen musste.
Als ich davon hörte, dass Fonds eingerichtet wurden, freute ich mich erst einmal. Dann wurde sehr schnell klar, dass diese Entschädigungen nicht für Leute gedacht waren, die in Einrichtungen leben mussten, die sich auf ihre Behinderung bezogen, ebenso nicht für Menschen, die als Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren. Wir waren von vornherein nicht mitgedacht. Wir mussten dasselbe Unrecht erleiden, doch bei uns gilt es nicht als solches. Als die ersten Stimmen laut wurden, die eine Gleichbehandlung einforderten, sagte die Politik, darüber müsse noch einmal gesondert nachgedacht und verhandelt werden. Seitdem denkt man gesondert nach – natürlich ohne die Betroffenen.
So deutlich kann eine Gesellschaft sagen: „Ihr gehört nicht dazu!“ Die Verletzung von Menschenrechten bei Behinderten und Verrückten ist normal. Dafür können sie nicht entschädigt werden. Schließlich ist es ja (wenn auch graduell nicht mehr so schlimm) bis heute so. Da hätten wir viel zu entschädigen.
Wir fordern eine Gleichbehandlung bei der Opferentschädigung von Menschen, die als Kinder und Jugendliche wegen einer Behinderung oder psychiatrischen Diagnose in einem Heim zu leben gezwungen und dort Misshandlungen ausgesetzt waren. Es muss einen runden Tisch mit Betroffenen geben und die entsprechenden Fonds müssen finanziell und terminlich erweitert und für diesen Personenkreis geöffnet werden.
Danke für eure Aufmerksamkeit!