Rede AK Psychiatriekritik
Diese Rede wurde vom AK Psychiatriekritik auf der behindert und verrückt feiern Pride Parade 2013 gehalten:
„Doktor dies schreibt das auf und Doktor Das bemüht sich murmelnd um Mitgefühl. Man beobachtet mich beurteilt mich (beschnüffelt mein Versagen das mir aus allen Poren dringt) und Verzweiflung zerrt an mir alles zerstörende Panik durchtränkt mich während ich stumm vor Entsetzen der Welt entgegenglotze und mich frage warum hier alle immerfort lächeln und mich begaffen mit diesem wissenden Blick für meine brennende Scham.“ (Sarah Kane, 4.48 Psychose)
Du funktionierst nicht? –Du bist nicht immer glücklich, arbeitsam und hörst vielleicht manchmal Stimmen? Das geht natürlich in der kapitalistischen Verwertungslogik gar nicht. Wir werden dann schnell in Schubladen gesteckt und mit einem Diagnoseetikett versehen. Oh, Moment, das Etikett passt nicht? Keine Sorge: bald erscheint ein neuer Diagnosekatalog und beschert den Psychiater_innen und Psycholog_innen neue Kategorien. Sie können aufatmen - das Abstempeln und Einsortieren kann weiter gehen!
Der neue DSM-V (der Diagnosekatalog der Amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie) ist diesen Mai erscheinen. Die Diskussion innerhalb der Ärzt_innenschaft führt deren Glaube an feststehende natürliche „Krankheiten“ bzw. “Störungen“ ad absurdum: Im DSM-V können Diagnosen sehr viel schneller vergeben werden als vorher. Z.b. wird Mensch nun schon mit einer Diagnose belegt, wenn die Trauerphase um eine nahestehende Person länger als zwei Wochen dauert. Diagnosen transportieren also gesellschaftliche Normen, z.b. auch die binäre Geschlechterlogik. Im neuen DSM-V werden trans*- Personen immer noch als „gestört“ etikettiert. Das absurde daran: Mensch braucht die Diagnose um bspw. Hormone zu bekommen und ist somit von der Diagnose abhängig. Das ist scheiße!
Und wusstet ihr, dass Homosexualität bis 1992 im Diagnosekatalog der Weltgesundheitsorganisation, der in Deutschland verpflichtend für die Abrechnung mit Krankenkassen ist, als psychische Störung galt?!
Wir sehen: Diagnosen sind gemacht. Da sind keine aufzudeckenden, leicht einkreisbaren Krankheiten dahinter. Keine Bakterien unterm Mikroskop erkennbar. Hier wird festgelegt, was als verrückt gilt und somit als „krank“. Ausgegangen wird bei dieser Festlegung von einer bestimmten Norm: Der Norm des „weißen“ heterosexuellen mittelschichts cis-Mannes. Wenn Personen dieser Setzung nicht entsprechen, werden sie als das Andere gesetzt, das Abweichende, das zu Behandelnde. Festgelegt wird dies nicht von denen, die es betrifft. Festgelegt wird dies von denen, die in unserer Gesellschaft die institutionalisierte Macht dazu haben - Psychiater_innen und Psycholog_innen. Gerade in der Forschung mischt zudem auch eine mächtige Pharmalobby mit.
Um in unserer Gesellschaft ein Nichtfunktionieren in Arbeitszusammenhängen zu rechtfertigen, braucht Mensch eine Diagnose. Das finden wir scheiße!
Das psychiatrische System verschleiert die Gesellschaftlichkeit unserer Geschichten. Unsere Krisen sind Ausdruck unserer Lebenserfahrungen in einem System, indem wir oft gewaltvolle Erfahrungen machen. Einem System, indem es gilt, sich einzufügen, unterzuordnen, mitzumachen. Einem System, in dem Rassismus und Sexismus Alltag sind.
Unsere Krisen werden durch die Psychiatrie individualisiert - nach dem Motto: dein Körper produziert deine Verrücktheit - dein Körper muss behandelt werden. Auch die bunten Bilder der Neurowissenschaften zeigen lediglich bestimmte Gehirnaktivitäten. Die Neuropsychologie soll rechtfertigen, dass weiter unsere Körper behandelt werden, anstatt die uns umgebenden Strukturen sichtbar zu machen. Behandelt wird in der Psychiatrie fast ausschließlich mit Medikamenten. Diese Psychopharmaka betäuben, bringen häufig nichts und haben belastende Nebenwirkungen. Im schlimmsten Fall werden Menschen unter Zwang behandelt: Einweisung in die Klinik, Fixierung und Depotspritze. Diese Gewalt steht auch im gemeindepsychiatrischen System immer im Hintergrund. – Wenn Mensch im Betreuten Wohnen nicht brav die Pillen nimmt, oder in der Reha-Werkstatt nicht ordentlich mitarbeitet, vielleicht sogar „ausflippt“, droht die stationäre Psychiatrie. Im letzten Jahrzehnt haben Zwangseinweisungen um mindestens 50% zugenommen. Auch im scheinbar freien Setting ambulanter Therapien wird klar zwischen „Professionalität“ und Betroffensein getrennt. Außerdem wird auch hier häufig versucht, Menschen zu normieren. Wer z.B. außerhalb einer monogamen heterosexuellen Zweierbeziehung lebt, muss sich oft rechtfertigen und wird nicht selten als beziehungsunfähig bezeichnet.
Hat dir deine Therapeutin schon mal von ihrer eigenen Betroffenheit erzählt? -Nein?
Kommt ja auch karrieretechnisch gar nicht gut. -Sich zu seiner eigenen Krisenerfahrung, eigenen Diagnosen und oft gewaltvollen Erfahrungen in der Psychiatrie zu bekennen, ist in unserer Gesellschaft keine Selbstverständlichkeit. Stigmatisierungen sind alltäglich! Und das ist scheiße!
Stigmatisierungen sind unterschiedlich. Es gibt gesellschaftlich „anerkanntere“ Diagnosen und solche, bei denen der Ausschluss quasi mitgeliefert wird: ca. 1/3 der Bevölkerung halten laut Umfragen Personen mit der Diagnose Schizophrenie für gefährlich! Was folgt ist Diskriminierung und Ausgrenzung.
Und in der Linken? -Schreiben wir bei der WG-Suche: „Weine manchmal laut in meinem Zimmer“ oder „An manchen Tagen möchte ich nicht angesprochen werden“? -Nein, eher nicht, oder? Wir schreiben: „Komme gerade von einem Auslandsaufenthalt wieder, bin in verschiedenen linken Zusammenhängen aktiv und koche gerne, am liebsten genug für alle!“
Wir als AK Psychiatriekritik sind eine Gruppe von betroffenen und nichtbetroffenen Personen. Auch in linken Zusammenhängen, in denen wir uns bewegen, wünschen wir uns mehr Sensibilität für Krisen. Auch dort wollen wir mehr Offenheit für nicht-normatives Verhalten: Wir wünschen uns mehr Reflektieren über das eigene Funktionieren und Rennen im Hamsterrad.
Wir wollen gefragt werden, was wir brauchen, wenn wir in einer Krise stecken -und nicht erst dann!
Wir sind für ein Hinterfragen von Krankheitskonzepten und gegen die Diskriminierung von Psychiatriebetroffenen!
Wir sind gegen paternalistisches „Behandelt-Werden“!
Wir wollen keine Fälle oder Patient_innen sein - Verrücktheit hat eine Existenzberechtigung!
Wir fordern eine bedürfnisorientierte, selbstorganisierte Unterstützung, bei der Wir entscheiden!
Unterstützung, bei der nicht wir als „krank/gestört“ gelabelt werden, sondern gewaltvolle Strukturen, denen wir ausgesetzt sind, sichtbar werden!
In unseren Krisen und Verrücktheiten sind wir Alle oft sehr unterschiedlich. Manchmal sind unsere Krisen sehr schmerzhaft. Viele können – oder wollen – daher auch heute nicht hier sein, etwa weil es ihnen schlecht geht, weil sie weggeschlossen sind oder weil wir sie in der gemeindepsychiatrischen Parallelgesellschaft mit unserem Aufruf nicht erreicht haben. Wenn wir heute hier sind, um gemeinsam zu feiern, heißt das nicht, dass wir diese Differenzen überdecken wollen. Es geht nicht um Relativierung schmerzhafter Erfahrungen, sondern darum, trotzig Präsenz zu zeigen und uns nicht zu verstecken mit unseren Erfahrungen. Wir dürfen so sein, wie wir sind und wir erobern uns die Straße!
Für die Abschaffung der Psychiatrie und für die Revolution!